La Biennale di Venezia 2024
Was ist Kunst – und wofür? Ein Besuch in Venedig. Und ein Projekt, das vielerorts wirken könnte.
Was ist Kunst – und wofür? Ein Besuch in Venedig. Und ein Projekt, das vielerorts wirken könnte.
Venedig ist zu schön, zu voll, zu laut – und in diesem Jahr noch ein wenig schöner: Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere lautet das Leitthema der 60. Internationalen Kunstausstellung. Man spürt sehr schnell, wie das Thema die Ausstellungen durchdringt. Es ist keine Feier des Fremden, sondern eine Beobachtung seiner Unvermeidbarkeit. Fremde gibt es überall – und wir alle sind es, fast überall. Dieser Gedanke durchzieht die Ausstellung wie ein roter Faden, mal laut, mal leise, oft gebrochen.
Fremdheit ist überall. In den Arbeiten, in den Geschichten – manchmal auch in der Art, wie Kunst mit ihrem Publikum umgeht. Einige Werke haben mich direkt gepackt. Andere blieben mir fremd.
Inmitten der unüberschaubaren Fülle an Positionen, Projekten und Pavillons stellt sich irgendwann unweigerlich die Frage: Was ist Kunst?
Kunst kommt für mich nicht zwingend von Können, sondern vom Machen. Wenn Menschen vor einem Kunstwerk stehen und sagen: „Das könnte ich auch“ – dann ist meine Antwort: „Aber du hast es nicht gemacht.“
Kunst entsteht für mich in dem Moment, in dem jemand einer Idee Form gibt. Nicht die Technik macht das Werk, sondern die Entscheidung, es umzusetzen.
Natürlich beeindruckt es mich, wenn jemand meisterhaft gestaltet, mit Material, Form oder Raum umgehen kann. Aber genauso kann mich ein Werk berühren, das nicht perfekt ist. Eines, das einen Gedanken trägt, eine Haltung, einen Blick. Manchmal ist ein Werk einfach nur schön – auch das reicht. Denn Berührung entsteht nicht durch Erklärung, sondern durch Wirkung.
Ein gutes Kunstwerk bleibt im Kopf. Es begleitet mich, stellt Fragen, vielleicht sogar erst Tage später. Es fordert Aufmerksamkeit – oder entzieht sich ihr auf eigensinnige Weise.
Was mich zunehmend beschäftigt: Muss ein Werk nicht zumindest versuchen, den Betrachter zu erreichen? Und zwar ohne seitenlange Erklärung, ohne kunsthistorische Erläuterung? Wenn ein Kunstwerk ohne Kontext kaum erkennbar ist – ist das dann noch Kommunikation oder bloß Konzept?
Ein Kunstwerk das keine Reaktion hervorruft, bleibt für mich ein leeres Objekt. Vielleicht technisch brillant. Aber ohne Seele.
Viele der Exponate der Biennale öffnen sich mir zum Glück – direkt oder auch verspätet. Werke, die eine Verbindung herstellen, ohne sich zu erklären. Die etwas zeigen, das bleibt. Wenn das gelingt – dann ist es für mich Kunst.
Ein Projekt möchte ich vorstellen, weil es mich besonders eingenommen hat und weil ich darin das Potenzial sehe, es lokal weiterzudenken.
Die französisch-marokkanische Künstlerin Bouchra Khalili hat mit Geflüchteten und staatenlosen Menschen zusammengearbeitet. In Videoprojektionen zeichnen diese mit einem Filzstift ihre Fluchtrouten auf Landkarten nach – und erzählen dabei ihre Geschichten von jahrelangen, gefährlichen Reisen, von Grenzen, Verlusten und Entscheidungen.
Was dabei entsteht, ist eine Begegnung mit Menschen, die sonst anonym bleiben. Individuelle Schicksale treten in den Vordergrund. Die Fremden werden zu Menschen. Und diese Menschen werden greifbar.
Das Besondere an der Arbeit ist, wie durch diese einfache Methode aus einer anonymen Masse Persönlichkeiten entstehen. Die Zuschauer lernen nicht nur die Route, sondern auch den Menschen dahinter kennen. Und mit der Persönlichkeit kommt die Empathie. Es nimmt die Angst und die Skepsis vor den Fremden.
Plötzlich begegnet man nicht mehr „den Ausländern“, sondern Einzelnen mit Geschichte und Stimme. In rassistischen Auseinandersetzungen werden die bereits integrierten Ausländer oft mit dem Satz „Das sind ja unsere Ausländer, die sind Okay!“ ausgenommen.
Mit einem Projekt wie diesem kann Nähe geschaffen werden, aus einer abstrakten „Gefahr“ werden Menschen denen man mit Empathie begegnen kann, aus Kennenlernen entsteht Vertrauen. In jedem Ort gibt es geflüchtete Menschen, deren Geschichten kaum jemand kennt. Dieses Projekt in lokalem Rahmen umzusetzten wäre leicht und könnte enorm viel bewirken. Für die Einheimischen, die ihre Skepsis verlieren und für die Geflüchteten, die ein Chance bekommen „unsere Ausländer“ zu werden.