Warum die Energiewende realistisch ist – und notwendig
Zwischen berechtigter Skepsis und plakativen Behauptungen auf Stammtisch-Niveau
Nach einer Informationsveranstaltung eines privaten Nahwärmeanbieters in Ohlstadt sah ich mich lautstarken Parolen gegenüber: „Deutschland macht doch nur 2 % der globalen CO₂-Emissionen – was soll das bringen?“ oder „Du glaubst doch selbst nicht, dass man damit ganz Deutschland versorgen kann!“ Aussagen wie diese sind symptomatisch für viele Debatten rund um Klimaschutz und Energiewende – kurz, laut, und oft ohne jede faktische Grundlage. Es lohnt sich, genauer hinzusehen. Denn wer sich auf den Stand der Wissenschaft und Technik stützt, erkennt: Die Energiewende ist nicht nur möglich – sie ist zwingend nötig, wirtschaftlich sinnvoll und technisch längst machbar.
1. Wie viel Energie braucht Deutschland eigentlich?
Deutschland ist ein energiehungriges Land – mit derzeit rund 84 Millionen Einwohnern, einem starken Industriesektor und hohem Lebensstandard. Der gesamte Primärenergieverbrauch lag 2023 bei etwa 2.998 TWh (entspricht rund 10.791 Petajoule). Die davon tatsächlich nutzbare Endenergie betrug etwa 2.500 TWh, davon wiederum rund 466 TWh in Form von Strom.
Quelle: AG Energiebilanzen 2024
Quelle: Umweltbundesamt
Quelle: Weltenergierat Deutschland
Endenergieverbrauch nach Sektor (geschätzt):
Sektor | Verbrauch (TWh) |
---|---|
Industrie | ca. 900 |
Verkehr (Mobilität) | ca. 600 |
Raumwärme | ca. 350 |
Warmwasser | ca. 100 |
Haushaltsstrom | ca. 130 |
Dienstleistungen | ca. 400 |
Diese Struktur zeigt: Der Stromverbrauch ist nur ein Teil des Gesamtbedarfs – viele Anwendungen basieren noch auf fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas.
2. Was passiert bei vollständiger Elektrifizierung?
Strom ist die effizienteste Energieform: Wärmepumpen haben etwa den dreifachen Wirkungsgrad von Gasheizungen, Elektroautos verbrauchen nur ein Drittel der Energie eines Verbrenners. Wenn man also alle fossilen Anwendungen durch Strom ersetzt, sinkt der Gesamtbedarf – aber der Strombedarf steigt deutlich.
Prognose für 2045 bei vollständiger Elektrifizierung:
Sektor | Strombedarf 2045 (TWh) |
---|---|
Industrie | 200–300 |
Mobilität | 100–150 |
Raumwärme | 100–150 |
Warmwasser | 30–40 |
Haushaltsstrom | 130 |
Dienstleistungen | 150–200 |
Wasserstoffproduktion | 100–150 |
Verluste & Speicher | 50–100 |
Gesamt | 950–1.200 |
Quellen u.a.:
Agora Energiewende
BMUV
UBA
McKinsey & Company
BEE
Fazit: Der Strombedarf würde sich etwa verdoppeln bis verdreifachen – dafür entfällt aber fast der gesamte fossile Energieeinsatz.
3. Können erneuerbare Energien das überhaupt leisten?
Kurze Antwort: Ja. Lange Antwort: Ja, und zwar mit einem realistischen, konservativen Szenario. Das technische Potenzial der erneuerbaren Stromerzeugung in Deutschland beträgt mehr als 1.400 TWh pro Jahr. Selbst unter realistischen Ausbaugrenzen sind über 1.100 TWh erreichbar.
Energiequelle | Realistisch nutzbar (2045) |
---|---|
Wind Onshore | 400–500 TWh |
Wind Offshore | 250–300 TWh |
Photovoltaik | 400–500 TWh |
Biomasse & Wasserkraft | 60–80 TWh |
Gesamt | >1.100 TWh/Jahr |
Quellen:
Fraunhofer ISE
Agora Energiewende
UBA
Zukunftstechnologien wie tiefe Geothermie, Floating Offshore Wind oder Power-to-X wurden in diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt – sie kämen on top.
4. Was muss passieren, damit es klappt?
Die Stromerzeugungskapazitäten müssen verdreifacht, die Netze verstärkt, Speicherlösungen ausgebaut und die Energieeffizienz gesteigert werden. Ein Überblick:
Erzeugung: Ausbau auf >400 GW PV, >200 GW Wind nötig (BMWK)
Netze: Nord-Süd-Trassen, Smart Grids, Digitalisierung
Speicher: Batteriespeicher, Pumpspeicher, Wasserstofflösungen (DLR, Fraunhofer ISE)
Verbrauch: Wärmepumpen, E-Mobilität, Energieeinsparung, Gebäudesanierung
Politik & Gesellschaft: Planungsbeschleunigung, Akzeptanz, Fachkräfteaufbau
Fazit: Die Energiewende ist kein Selbstläufer – aber technisch und wirtschaftlich realistisch machbar.
5. Und was bringt das weltweit?
Hier kommt das berühmte „Deutschland macht doch nur 2 %…“ – das stimmt zwar rechnerisch, ist aber verkürzt:
Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Seine Emissionen sind nicht nur mengenmäßig, sondern historisch und pro Kopf relevant.
Pro-Kopf-Emissionen: ca. 9 Tonnen CO₂/Jahr (globaler Schnitt: 4,5–5 Tonnen). Länder wie Indien (2 t), Brasilien (2,2 t), Nigeria (0,7 t) zeigen, wie groß die Unterschiede sind.
Quelle: Climate Transparency Report 2023Deutschland hat das Know-how, die Technik und das Geld, um Vorreiter zu sein. Gelingt der Umbau hier, ist das eine Vorlage für andere Länder.
Fazit: Warum es sich lohnt, nicht auf den Stammtisch zu hören
Die Energiewende ist kein ideologisches Projekt – sie ist eine technisch machbare, ökonomisch sinnvolle und klimapolitisch zwingende Strategie. Deutschland kann seinen Energiebedarf durch erneuerbare Quellen decken – konservativ gerechnet.
Wer also beim nächsten Stammtisch wieder hört, das ginge „doch alles gar nicht“ – darf gern mit Zahlen, Quellen und einem Schmunzeln antworten:
Nicht der Lauteste hat recht, sondern der, der genauer hingeschaut hat.